Vor 15 Jahren starb der französische Schriftsteller Alain Robbe-Grillet auf seinem Schloss in der Normandie, das bereits auf dem Weg war, zu seinem Museum zu werden. Morbide? Ihn amüsierte das eher.
Agraringenieur, Filmemacher, Schriftsteller – Robbe-Grillet scheute sich nicht, neue Wege zu gehen. Foto: picture alliance/Effigie Leemage
Es lag mit Beginn des 20. Jahrhunderts wohl in der Luft: Noch bevor sich in den Wissenschaften der Konstruktivismus entwickelte, hatten die Kunst und auch speziell die Literatur einen Kurs eingeschlagen, der Wahrheiten als „erledigt“ hinstellte. Ernst von Glasersfeld hat konstatiert, die Literatur der klassischen Moderne habe ihn stark geprägt, und er führt mit „Finnegan’s Wake“ von James Joyce genau jenes Werk an, an dem auch Umberto Eco in seiner umfangreichen Analyse „Das offene Kunstwerk“ (1962) diese Literaturentwicklung theoretisch zu fassen versucht hat. Immer weniger konnte die Narration so tun, als gebe sie im alten Verständnis der Mimesis „die“ Realität wieder. Die Realität war zu etwas geworden, was immer und unhintergehbar durch eine subjektive sinnliche Wahrnehmung vermittelt und in einem neuronalen Netzwerk namens Gehirn weiterverarbeitet wird.
Die subjektiv verzerrende Wirklichkeitskonstruktion war auch in den frühen Texten von Samuel Beckett („Molloy“, 1951) in den Fokus gerückt, doch konzeptuell und als ästhetische „Theorie“ wurde sie erst ab den späten 1950ern vertreten. Sie nannte sich „Neuer Realismus“.
Nouveaux romanciers
Zu den radikalsten Vertretern dieser neuen Richtung in der Literatur gehörte Alain Robbe-Grillet. Während sich die deutschen Schriftsteller und Schriftstellerinnen nach 1945 mit moralischer Verantwortung und der Wahrheit von dem, was im deutschen Faschismus wirklich geschehen war, herumschlugen, stellten französische Autoren die Wahrheit längst radikal infrage. Sie nannten sich die „nouveaux romanciers“. Zu ihnen gehörten neben Robbe-Grillet auch Michel Butor, Claude Simon, Claude Ollier, Robert Pinget und die Autorin Nathalie Sarraute.
Alain Robbe-Grillet war mit seinem frechen Vorpreschen so etwas wie der Star dieser Literaturrichtung in Frankreich, auch wenn er selbst stets Michel Butor die Starrolle zuschrieb. Er hat sich in „Argumente für einen neuen Roman“ (1963) sehr ausführlich auch auf theoretischer Ebene mit ästhetischen Fragen beschäftigt und eine Entschiedenheit an den Tag gelegt, die ihn zu einem echten Streithahn machte, was auch die eigentlichen Mitstreiter gelegentlich zu spüren bekam, wenn er ihnen mal wieder nachwies, dass sie das Konzept nicht wirklich durchhielten. Und dabei meinte er nicht etwa jene subjektive Brechung einer Erzählung wie im Bewusstseinsstrom oder im mehrperspektiven Erzählen. Allein das Schreiben in subjektiver Erster Person reichte ihm nicht. Was er meinte, war ein Anti-Anthropomorphismus, der deutlich machen sollte, wie sehr wir Menschen den Dingen und den anderen Menschen genau das unterstellen, was wir in ihnen zu sehen wünschen. Genau das wollte Robbe-Grillet verhindern. So lehnte er jede Form der Allegorie ab und führte keine bloß subjektiv wahrnehmenden Figuren vor, sondern warf die Lesenden auf ihre eigene Subjektivität zurück.
War im Roman „Die Radiergummis“ (1953) manches noch traditionell erzählt, machten Mitte bis Ende der 1950er-Jahre nacheinander „Der Augenzeuge“ von 1955, „Die Jalousie oder Die Eifersucht“ (französisch nur „La Jalousie“) von 1957 und dann 1959 „Die Niederlage von Reichenfels“ („Dans le Labyrinthe“) unmissverständlich klar, worum es dem Autor ging. Schnell bekamen seine Texte auch international Aufmerksamkeit. Es folgten zahlreiche Romane wie „Die blaue Villa in Hongkong“ (1965) oder „Projekt für eine Revolution in New York“ (1970), in dem es um nichts weniger geht als um eine Revolution in New York.
Beobachtungen als Thema
Ein Autor, der die Welt als lediglich beobachtet darstellt und die Differenz von Mensch und Umwelt unterstreichen will, klingt dann beispielsweise so: „Er zeichnet. Er zeichnet eine dicke, weiß-graue Möwe von der Art, die gemeinhin den Namen Seemöwe trägt. Man sieht den Vogel von der Seite, mit nach rechts gerichtetem Kopf. Man erkennt die geschlängelte Randlinie des Schnabels und dessen herabgebogene Spitze, die einzelnen Federn am Schwanz sowie am Schwingenrand und sogar die wie Schiefer übereinandergefügten Schuppen längs des Fußes. Man hat indes den Eindruck, dass ihm noch etwas fehlt. Etwas fehlte der Zeichnung, es war schwierig, genau zu sagen, was.“
Es kommt auch mal vor, dass er eine Terrasse beobachtet, auf der nichts geschieht, außer dass sich darauf die Schatten durch den Lauf der Sonne verändern.
Inspiration und Ablehnung
Er selbst sei stark „von Kafka gekommen“, sagte er, habe aber den Ulysses auch schon mit 20 Jahren gelesen und die Bücher von William Faulkner. Mit Autoren wie Balzac, Proust oder später Houellebecq konnte er nicht nur nichts anfangen, er lehnte ihre Texte ganz vehement ab und scheute sich auch im hohen Alter nicht, Houellebecq als einen Autor für jene Versager zu bezeichnen, die ihre eigene Mittelmäßigkeit kultivieren wollten.
Im ersten Beruf war Robbe-Grillet Agraringenieur gewesen, hatte im Zweiten Weltkrieg gekämpft, geriet für zwei Jahre in deutsche Kriegsgefangenschaft (Nürnberg) und war deshalb auch ein guter Beobachter Deutschlands. Seinen spielerischen Umgang mit der Sprache leitete er aus den Erfahrungen im perfekt organisierten deutschen Arbeitslager ab – ähnlich den KZs, wie er erfuhr. Wo die Ordnung erdrückend bis mörderisch sei, da könne nur der spielerische Umgang helfen. Das Spiel als Überlebenstraining. Ästhetische Erfahrung als Lebensbewältigung.
Zurück in Frankreich begann er zu schreiben und sich auch für filmisches Erzählen zu interessieren. Das Drehbuch von „Letztes Jahr in Marienbad“ (1961) stammt von ihm. Die Ideen des Neuen Realismus hatten auch den Regisseur Alain Resnais inspiriert (Regieassistent war Volker Schlöndorff), der zu Robbe-Grillet Kontakt aufgenommen hatte. Es entstand ein Film, bei dem man nie weiß, auf welcher Zeitebene man sich gerade befindet, die Räume sind perspektivisch verzogen und: Wer sind eigentlich die Figuren? Eine später Wiederkehr solchen Erzählens findet sich in David Lynchs „Inland Empire“.
Überhaupt stellte Robbe-Grillet am liebsten alles gleichzeitig infrage: die Kontinuität der Zeit, des Raumes, der Perspektive und zuweilen die Identität einer Figur, wenn etwa Merkmale dieser Figur plötzlich auf eine andere Figur übergehen. Dabei sind solche Verschiebungen oft gar nicht so leicht wahrzunehmen, zumal wir kleine Dissonanzen gerade in der ästhetischen Erfahrung gerne mal beiseiteschieben, um unsere Vorstellung konsistent zu halten. Doch irgendwann, irgendwann merken wir, dass unsere Konstruktion nicht aufgeht.
Zwischen den beiden Romanen „Die Wiederholung“ und „Der Augenzeuge“ liegen 47 Jahre.
Ab Mitte der 1980er-Jahre nahm sich Robbe-Grillet dann das autobiografische Schreiben vor – die heutige Diskussion um die sogenannte „Autofiktion“ würde er müde beschmunzelt haben. Doch auch hier gilt Vorsicht, denn wer glaubt, jetzt ginge es um das Abfeiern des eigenen Lebens, irrt. Die Meinung, gegen Ende seines Lebens habe er auch nur noch autobiografisch geschrieben, trifft diesen Autor nicht. Es handelt sich vielmehr um das, was zuweilen eine Automythografie genannt wird. Der schwarze Reiter in den drei Teilen der „Autobiografie“ etwa, der zuweilen an der Küste der Normandie auftaucht, ist eben keinem realen Menschen oder einer Realität zuzuweisen.
Doch es ist auch gar nicht beim autobiografischen Schreiben geblieben, denn wie aus dem Nichts erschien 2001 (deutsch 2002) ein neuer Roman von ihm: „Die Wiederholung“, der im Berlin der Nachkriegszeit spielt. Und jetzt trat etwas ein, was den Verfasser zutiefst überraschte und mehr noch amüsierte: Nicht nur, dass der Roman Verkaufszahlen erreichte (in Frankreich 20000 in den ersten drei Wochen), die er nicht erwartet hatte, nein, er stieß geradezu auf Euphorie in der Literaturkritik, die er selbst so kommentierte: „Die Kritiker waren mir plötzlich so wohlgesonnen, obwohl sie doch eigentlich noch mehr hätten kotzen müssen! Tatsächlich habe ich für keines meiner Bücher so viel Aufmerksamkeit und Lob bekommen. Ich mache mir ernstlich Sorgen.“ Auch in Deutschland ließ kein Feuilleton die Gelegenheit zur Rezension verstreichen. Jubel allenthalben. Da war der Autor 80 Jahre alt.
Und in Deutschland?
Der Neue Realismus hat in Deutschland nur ein kurzes Zucken erlebt. Während sich Dieter Wellershoff anfangs diesem Ansatz verschrieb (etwa mit „Die Schattengrenze“), von einer „Kölner Schule“ war sogar zwischenzeitlich die Rede, erklärte dieser Autor sein Abrücken davon später damit, er habe den Neuen Realismus lediglich als Arbeitshypothese verstanden. Max Frisch’ „Mein Name sei Gantenbein“, Peter Weiss mit „Der Schatten des Körpers des Kutschers“, insbesondere aber Peter Handke mit „Die Hornisse“ und „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ wären zu nennen.
Die Bücher von Robbe-Grillet erschienen im deutschsprachigen Raum zwar oft schon ein Jahr nach der Veröffentlichung in Frankreich und hatten auch für deutschsprachige Autorinnen und Autoren jener Zeit durchaus Bedeutung, viel mehr als ein oder zwei Auflagen haben sie allerdings oftmals nicht erlebt. Das ist deshalb schade, weil diese Art von Romanen wirklich eine ganz eigene ästhetische Erfahrung mit sich bringt und die Lesenden in der Entwicklung ihrer Ambiguitätstoleranz reichlich herausfordert. Diesem Kreiseln im Kopf sollte man sich durchaus hin und wieder aussetzen. Aber Vorsicht, manchmal bemerkt man dieses Kreiseln zunächst gar nicht, die Texte lassen sich „runterlesen“ wie andere auch, bis es einem vielleicht zu dämmern beginnt: Da fehlt doch etwas? Oder ist da vielleicht irgendwas zu viel? Uwe Britten